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Versperrte Transzendenz
von Thomas D. Trummer, Juni 2014

Eine Frau steht im Bild. Sie ist ruhig und gefasst wie eine Säule.
Die Frau ist schwarz gekleidet. Sie trägt ein langes Kleid, dazu einen hochgeschlossenen Kragen. Den Kopf verhüllt ein helles, anliegendes Tuch. Sie hält einen Fisch in der rechten Hand. Dabei blickt sie den Betrachter direkt an. Ihre stumme Gegenwart irritiert. Wer ist sie?
Ist sie eine Ahnin, eine unwillkommene Heilige, ein mysteriöses Mahnmal, ein beängstigendes feminines Menetekel?
Laue Wellen laufen auf das Ufer hinter ihr zu. Kommt sie gar von dort? Aus dem Wasser? Aus dem Fluss? Die Welt rundum ist dunstig. In der Ferne sind die wenigen Konturen des anderen Ufers auszumachen. Tonig und feucht zerfließt alles Sichtbare.
Die Frau ist von dem irdischen Geschehen wie unbehelligt. Ihr Attribut, der von ihrer Hand herabhängende Fisch, glänzt silbrig. Der Fisch ist entblößt. Seine Schuppen untermalen die Tristesse der unterkühlten Begegnungen. Es ist das Warten, das beunruhigt und das wortlose Zeigen. Man möchte mehr an Ingmar Bergmans Filme als an August Sanders Berufsbildnisse denken, die Ruhe, die sich in ersteren anbietet. Das Unbehagen schwillt in der Sphäre des Schwarz-Weißen an, die Zeit steht still und wird uns gerade deshalb in Vergehen und Vergänglichkeit zur bedeutungsvollen Ahnung.
Manche gegenwärtige Philosophie ist versucht, eine Kategorisierung des
Zeigens vorzunehmen. Vom mystic turn ist allenthalben die Rede. Im Zeigen liegt der Schlüssel für das bildliche Verstehen. Jede Geste ist eine vorsprachliche Sprache. Im Hinweis eröffnet sich der Weg auf eine noch zu erschließende Bedeutung. Im Zeigen vermittelt sich ein semantischer Überschuss. Indes ist das tatenlose Warten das nachhaltigste Kennzeichen des Bildes mit Frau und Fisch. Das Zeigen wird zur Unterbietung.Die Frau ist eine Statue am Strand. Als solche steht sie im Zentrum. Zugleich ist sie Statist des Zeigens. Als solche steht sie am Rand. Sie trägt den Fisch, der die Botschaft trägt. Dadurch wird das Tier, das im Wasser und am Leben noch stumm ist, vom namenlosen Objekt zum sprechenden Subjekt. Es scheint, als könnte den Fisch erst der Tod mit einer Botschaft ausstatten. Doch seine Rolle
in dem Bildnis und sein Verhältnis zu der Frau bleiben dennoch unklar. Was ist dieses Tier aus dem Wasser? Worin besteht seine Bedeutung? Ist es ein Attribut der Frau? Ein inkriminierter Indizienbeweis vielleicht? Oder das Insignium einer dunklen Göttergestalt oder Botin?

Bilder können auf verschiedene Weise das Zeigen darbieten. Einmal als
pointing, das andere Mal als showing. Der Unterschied wird deutlich, wenn wir Bilder und ihr Zeigen wie Zeichen begreifen. Das pointing ist das konkrete,fokussierte Zeigen, das Hinweisen und Verweisen auf etwas. Das showing, der andere Typus, vermittelt ein Vorführen und Präsentieren. Das Vorführen bringt ein anderes Verhältnis zwischen Zeigendem und Gezeigten mit sich. Im showing wird das Gezeigte zu einem Akteur. Es stellt sich dar, agiert und handelt. Das pointing indes vermittelt einen Gegenstand. Er bleibt passiv und erhebt allein durch sein Dasein Anspruch auf Aufmerksamkeit. Tatsächlich sind diese beiden Typen zur Beschreibung von Bildern hilfreich. Insbesondere, wenn es um körpersprachlichen Ausdruck geht. Es hilft, Gesten sinnvoll zu deuten.
Allein, es bleibt zu fragen, ob die beiden Varianten ausreichen, um dieses Bild hinreichend zu beschreiben? Bietet sich nicht die Frau, die etwas zeigt, nicht auch selbst dar? Und ist das Gezeigte, der Fisch, nicht ein Akteur? Dazu kommt der Chiasmus von Leben und Tod. Ist nicht der Fisch, der lebendig war, bevor er zum mysteriösen Symbol wurde, ein Lebewesen, das Geschichte mit sich führt? Erinnert er nicht an ein Werden und Vergehen, an ein Kommen und Gehen, an ein verlorenes Leben und einen heraldischen Tod? Und ist nicht die Frau, die noch lebendig wirkt, schon wie tot gefroren? Die Frau hält den Fisch empor, präsentiert ihn in einer für ihn lebensfeindlichen Umgebung, und hält
ihn zugleich von sich weg. Es ist kein organisches, sondern ein ostentatives Zeigen. Und es ist das pointing, das in showing mündet. Daraus folgt das Paradox. Das Zeigen ist eine Handlung, die eine Handlung erstarren lässt. Es ist eine Tat, die gefriert.
Der Fisch ist ein Schaukörper, der zu denken gibt. Er ist Assistenz der Frau, Supplement ihrer Erscheinung und doch mehr als nur Utensil. Agieren und Erzählen gehen dem Bild voraus. Deshalb bleiben seine Geschichte, Funktion, Vermittlung unerschlossen. Geschichte wird uns nur über den Rückschluss ersichtlich. Und so findet das Handeln nur zur schwachen Bedeutung eines Mutmaßens. Wie kam das alles zustande: das Aufnehmen des Fisches, seine vermeintliche Herkunft aus dem Fluss, die Pose der Frau und ihre merkwürdige Kleidung?

Das Mittel der in Mainz tätigen Helen Jilavu ist die Fotografie. Die Fotografie erlaubt die Inszenierung, die Darstellung und Vorstellung von Körpern im Bild.
Sie erlaubt die Präsenz von Vergangenem. Noch mehr ermöglicht sie das
Erstarren der Handlung. Denn die Fotografie ist ein Ausschnitt aus der Zeit. Insofern ist jedes Abgebildete im Foto bereits totenähnlich. Der Tod, sagte der deutsche Kunsthistoriker Hans Belting einmal, ist der erste Bildner. Nur im Tod werden wir uns selbst ähnlich.
Zugleich ist dieses Selbstzeigen, das Anhalten der Handlung im Bild und durch das Bild, ein räumlicher Vorgang. Die Frau hält still. Sie begegnet als blassfarbige, wächserne Skulptur. Daher ist es genau genommen nicht das Foto, das die Frau festhält. Die Frau steht bereits still, bevor das Foto, das ihr noch den Atem und das Leben nimmt, sie einfängt. Die Statuarik wird noch deutlicher im Unterschied zum Wasser, dem beweglichen, noch lebendigen Bestandteil des Bildes. Davor aber, – während der Inszenierung – ist das pointing ein Akt. Doch dieser Akt ist sonderbar, weil er eine Handlung ist, die sich als Handlung negiert. Wir nehmen nichts anderes wahr als eine eigentümliche und eindringliche Stille.
Das Wasser unterwirft sich nicht der Pose, es umspielt sie. Das Wasser bleibt im Aktionsraum des showing. Allerdings muss es seine Lebendigkeit dem Foto opfern. Seine weichen Energien, der Wind und die Strömung, die die Wellen gegen den Sand treiben, kommen im Bild zum Stillstand. Die träufelnden Gitschtkronen sind dennoch ein wichtiges Detail. Sie sind der letzte Beleg dafür, dass dieses Foto in dieser Welt gemacht wurde. Sie vermitteln einen Bezug zur Wirklichkeit.
Wer etwas zeigt oder präsentiert, der formuliert einen Appell. pointing und showing sind visuelle Benennungen und zugleich Aufforderungen an andere.

Sie leiten zum gelenkten Wahrnehmen. Sie sprechen Dinge, Taten und
Ereignisse an. Doch Jilavu unterdrückt die Beredsamkeit des Zeigens. Sie unterdrückt den Vermittlungswert der Zeichen. Sie zeigt eine Frau, die eine Handlung setzt, die eine Handlung erstarren lässt. Sie mimt eine Tat, die sich als Tat zurücknimmt. Sie stellt sich in einer Pose dar, die beim Aufgenommen-
Werden bereits versteinert und vergangen ist. In ähnlichem Sinne friert auch der Appell. Das ostentative Zeigen ist aufdringlich, doch sein Sinn bleibt unzugänglich. Es ist wie eine Sprache, deren Intention deutlich wird, und dennoch ihren Sinn nicht preisgeben kann. Die Geste verhallt. Sie folgt einer Sprache des Appells, der wirkmächtig adressiert wird und dennoch ins Leere greift, weil er nicht aufgegriffen, erwidert oder beantwortet werden kann. Weil kein Antwortgeschehen seitens der Betrachter möglich ist, wird diese
Begegnung als unheimlich und ihre Erscheinung als Konfrontation empfunden.
Die Frau zeigt sich als schwarze Silhouette, als lebensgroßer Schattenriss, als Front. Nicht sehr oft wird gegenwärtig, dass Bilder Flächen sind, die andere Flächen in sich aufnehmen. Doch hier ist dies der Fall. Die Frau ist eine Figur, die als Schablone in das nebelige Grauweiß der Umgebung eingestellt ist. Von Rückenfiguren weiß die Kunstgeschichte viel zu erzählen. Weniger von den fazialen und frontalen. Die Rückenansichten sind seit der Romantik spirituelle
Mittler zwischen der Gegenwart des Bildes und seiner Transzendenz.
Die Bilder von Caspar David Friedrich öffnen sich dem Horizont zu. Sie erschließen eine Welt, die sich hinter und jenseits des Abbildbaren verbirgt. Die Darsteller, die er dafür benützt, sind bildimmanente Mediatoren, die dazu helfen, in die Bildwirklichkeit einzusteigen, um von dort aus den Schritt gemeinsam mit dem Maler in Richtung hintergründige Transzendenzerfahrung zu wagen.

Bei Jilavu ist die Transzendenzsicht versperrt. Im Gegenteil. Die Frontalität verhindert ein Überschreiten. Die Frau ist kein Mittler, sondern jemand, der zu einer Antwort auffordert. Sie ist eine ohnmächtige Göttin, ein Norne oder Nymphe, die sich wie Echo vergeblich mitteilen will und dennoch nicht kann. Und wegen ihres Begehrens unendlich und unruhig hadert. Alles Sagen nähert sich gefährlich dem Tode, weil es gefühllos wird wie ein aus Leben herausgeschnittener Moment.

Die Frau, die sich im Bild zeigt, ist Jilavu selbst. Das Bild gehört zu einer Serie von Arbeiten, die die Fotografin von sich anfertigt. Jilavu fertigt dafür Inszenierungen an. Sie sucht leere Räume, verlassene Gebäude oder befremdliche Gegenden. An den Orten werden keine oder kaum Veränderungen vorgenommen. Allein die Kleidung der Fotografin gibt den Bildern einen narrativen, illustrativen Akzent. Mag sein, dass die Fotografin in manchen Kostümen so wirkt, als sei sie auf der Suche nach der eigenen Identität. Folkloristische Anspielungen lassen ein Begehren nach geborgener Befindlichkeit oder Heimat vermuten. Doch recht eigentlich sind diese Bildnisse keine Porträts im Sinne einer Selbstsuche. Sie bestechen eher in der Umkehrung dieser Wünsche. Sie werfen Begehren zurück und machen verstummen und sprachlos. Insofern sind sie Figurationen von Handlungsbeschränkung, Wortlosigkeit, vielleicht auch Mangeldasein und verhaltener Anklage. Es sind Bilder, die in den Raum der Frage führen. Aufforderungen und Sehnsüchte erreichen den Adressaten und geben doch keinen Raum für eine adäquate Antwort. Darum beherrscht das OEuvre von Jilavu ein Unwohlsein in Einsamkeit. Eine Fotografie zeigt sie in der „Moguntia Gewürzmühle“. Sie trägt eine blau gestreifte Arbeitskleidung, darunter eine kurzärmelige Bluse und weiße Sandalen. Diesmal kommt die Protagonistin ohne Zeigen und hinzugefügte Attribute aus. Das showing der eigenen Erscheinung dominiert. Dafür tritt der Raum verstärkt ins Bewusstsein. Jilavu steht vor der Rückwand der verlassenen Fabrik. Neben ihr ist die Tür, die das Bildgeviert und seine Proportionen im Bild wiederholt. Darüber laufen Stromleitungen entlang. Sie sind horizontal, nur eine Verzweigung biegt nach unten. Das mächtige Lüftungsrohr am linken
Bildrand bietet einer Parallele zur Quadratur des Fotos. Es führt direkt zu ihrem Kopf, der abermals mit einem Tuch verhüllt ist. Jilavu nimmt ihre Bilder mit der Plattenkamera auf. Das heißt, sie benutzt ein Raster, das auf der Glasfläche eingetragen ist. So wird das Bild geometrisch kalibriert.

Doch die Bilder sind nicht formalistisch, sie sind politisch. Die Porträts sind weniger Pose als Stellungnahme. Es geht um soziale Ungleichheit, um gesellschaftliche Anerkennung, Zugehörigkeit und sozialen Handlungsrahmen.
Jilavu stellt sich als Mitarbeiterin des Reinigungspersonals dar. Sie ist nicht die Besitzerin des Raumes, nicht die Herrin der Fabrik, schon gar keine stumme Göttin. Sie ist Dienstleisterin, es ist ihr Arbeitsplatz. Doch die Art der Arbeit wird nicht ersichtlich. Diesmal fehlen die Attribute. Es bleibt das Motiv der Verlorenheit, das Ausgesetzt-Sein, das stumme Fragen.